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„…schreibe sie an die Pfosten deines Hauses und an deine Tore!“

So lautet die Aufforderung in der Tora aus Deut. 6, 4-9 und 11, 13-21. Und so sind an jedem jüdischen Haus die Mesusot (hebräisch für „Türpfosten“) zu finden – meist in Schriftkapseln, welche an den Türpfosten befestigt sind.

Die Mesusa ist eine kleine Schachtel. Sie ist länglich und aus Messing. Sie enthält eine Schriftrolle aus Pergament. Ein hebräischer Buchstabe ist zu sehen.

Mesusa aus dem Bestand des Museums Kirche in Franken, aufgeklappt. (Foto: Claudia Berwind)

Die Tür gehört zu einer Synagoge. Der Türpfosten ist aus Stein. Auf dem Pfosten ist ein schräger Abdruck. Hier hing früher eine Mesusa.

Die Eingangstür der Synagoge aus Allersheim, die im Fränkischen Freilandmuseum wiederaufgebaut und 2023 eröffnet wurde. Hier kann man im oberen Bereich des rechten Türpfostens noch erkennen, wo einst die Mesusa angebracht war. (Foto: Claudia Berwind)

Die Rückseite der Mesusa ist beschriftet. Hier stehen der Name Tanenwald, der Ort Sulzdorf an der Lederhecke und die Jahreszahl 1926.

Die Rückseite der Mesusa mit den Aufschriften "TANENWALD", "Sulzdorf/L", "1926". (Foto: Claudia Berwind)

Auf dem Friedhof stehen viele Grabsteine. Die meistens sind oben rund. Um den Friedhof ist eine Mauer.

Der jüdische Friedhof in Sulzdorf an der Lederhecke. (Quelle: Wikimedia Commons)

Das Bild zeigt einen Zeitungsartikel. Die Zeitung heißt Der Israelit. Es geht um Marie Tannenwald.

Artikel über Marie Tannenwald, geb. Goldschmidt, in „Der Israelit“ vom 12.06.1889. (Quelle: www.alemannia-judaica.de)

In der Sammlung des Museum Kirche in Franken befindet sich solch eine Mesusa (Pl. Mesusot). Die längliche Schrifthülse ist aus Messing und enthält die Pergamentrolle mit den Gesetzestexten. Damit das Pergament ohne Beeinträchtigung eingeschoben werden konnte, liegt es auf einer Glasplatte auf. An der Ober- und an der Unterseite hat die Schriftkapsel Ösen, an denen sie ursprünglich mit Nägeln oder Schrauben an einem Türpfosten befestigt war. Vorne gibt es eine kleine Klappe, die geöffnet den hebräischen Buchstaben Schin zeigt. Schin steht für Schaddaj, ein Name Gottes, der „Beschützer der Türen von Israel“ bedeutet.

Die Schriftkapseln oder- hülsen sind so vielfältig wie die Familien, in deren Häusern sie zu finden sind. Es gibt sie aus Holz, Metall, Keramik oder Kunststoff, kunstvoll verziert oder ganz schlicht. Ihr Inhalt – die eigentliche Mesusa – ist aber immer gleich. Der Text, der genau aus 713 Buchstaben besteht, steht auf feinem Pergament (hebr. Klaf). Das Pergament muss von einem koscheren Tier stammen, mit speziell hergestellter Tinte und mit einem angespitzten Federkiel eines koscheren Vogels von einem Sofer (Pl. Soferim) beschrieben werden. Soferim sind speziell ausgebildete Schreiber, nur sie sind Experten für das Schreiben heiliger Texte. Das Pergament wird nach der Fertigstellung mit dem Text nach innen eingerollt und entweder in eine Hülse oder in eine Kerbe direkt in den Türpfosten eingelegt. Es muss von außen das Schaddaj zu lesen sein, entweder wird es auf die Rückseite des Pergaments geschrieben (so wie bei dieser Mesusa) oder es ist auf der Hülse selbst angebracht.

Für die Anbringung der Mesusa gibt es strenge Regeln: Sie muss im oberen rechten Teil des Türrahmens erfolgen, leicht angewinkelt1, das obere Ende zeigt zum Raum hin. Im Zweifelsfall muss ein Rabbiner befragt werden. Es sollte an jeder Tür im Haus – Badezimmer und Toiletten ausgenommen – und an jedem Tor eine Mesusa hängen oder eingelegt sein.

Der Mesusa kommt eine schützende Symbolik zu, sie hält Unheil von Haus und Hof fern. Bei einem Einzug oder einem fertigen Neubau müssen die Mesusot innerhalb von 30 Tagen angebracht werden. Es erfolgt ein Segensspruch, meist durch den Hausvorstand, danach sollten die Mesusot dauerhaft, also möglichst sicher, befestigt werden. Fromme Juden berühren und küssen die Hand, mit der sie die Mesusa berührt haben, wenn sie durch die Türen ihres Hauses gehen.2

Wo kommt nun die Mesusa in der Sammlung her? Einen Hinweis gibt der auf der Rückseite ins Metall eingeritzte Text. Dort steht: „Tańenwald, Sulzdorf/L, 1926“. Mit Sulzdorf ist Sulzdorf an der Lederhecke im Landkreis Rhön-Grabfeld in Unterfranken gemeint. In Sulzdorf gab es spätestens seit dem 18. Jahrhundert eine prosperierende jüdische Gemeinde.3 Um 1800 lebten dort zeitweise über 150 jüdische Einwohner. Es gab eine Synagoge, eine Schule, ein rituelles Bad und einen Friedhof. Durch die festgeschriebenen 28 Matrikelstellen4 verringerte sich aber im 19. Jahrhundert die Einwohnerzahl stetig und 1920 verließ die letzte jüdische Familie Sulzdorf.

Im Geburts-, Trau- und Sterbe-Matrikel für die Judengemeinde Sulzdorf 1814-18765 taucht keine Familie Tannenwald auf. Erste Nennung des Namens erfolgt in der Zeitschrift „Der Israelit“ vom 12. Juni 1889, wo ein Nachruf einer Marie Tannenwald, geb. Goldschmidt erschien. Die Frau verstarb im Alter von 31 Jahren und hinterließ einen „tief betrübten Gatten“ und „vier kleine unmündige Kinder im Alter von 6 zu 1 ½ Jahren“. Als eine geborene Goldschmidt – diese Familie findet sich mehrmals in den Matrikeln – stammte Marie wohl aus Sulzdorf und der Ehemann kam höchstwahrscheinlich aus einem anderen Ort. In der NS-Zeit sind umgekommen: eine Mathilde Karlindacher, geb. Tannenwald, geb. 1885 in Sulzdorf und ein Louis Tannenwald, geb. 1883 in Sulzdorf, beide vor ihrer Deportation wohnhaft in Fürth. Außerdem im Ersten Weltkrieg gefallen, ein Max Tannenwald, geb. 1893 in Sulzdorf, wohnhaft in Königshofen. Die Forschungen sind noch im Gange, wir hoffen, dass wir bald die gesamte Familiengeschichte der Tannenwalds aus Sulzdorf nachvollziehen können.

Die Jahreszahl 1926 gibt noch Rätsel auf. Laut den Quellen gibt es seit 1920 keine Juden mehr in Sulzdorf. Wurde die Mesusa von der Familie zurückgelassen, nachdem sie Sulzdorf verließ? Entfernten vielleicht die neuen Bewohner des Tannenwald-Hauses 1926 die Mesusa? Wer schrieb die Worte auf die Rückseite? Wer bewahrte die Mesusa seitdem auf? Ein kleines Stück jüdischer Familiengeschichte in einer musealen Sammlung bewahrt nicht nur heilige Texte, sondern auch noch ganz viele Geheimnisse…

 

Anmerkungen: | (1) Die schräge Anbringung geht auf den Rabbiner Mosche Isserles (1520-1572) zurück, der diesen Kompromiss nach einer Meinungsverschiedenheit zwischen vertikaler oder horizontaler Anbringung fand. | (2) URL: https:/www.zentralratderjuden.de/judentum/symbole/ [Aufruf am 15.02.2024] | (3) URL: https://alemannia-judaica.de/sulzdorf_synagoge.htm [Aufruf am 15.02.2024] | (4) Siehe Erlass des Judenedikts 10. Juni 1813 („Edikt, die Verhältnisse der jüdischen Glaubensgenossen im Königreiche Baiern betreffend“). Mit dem Matrikelparagraph §12 versuchte man die Judenfamilien zu verringern, indem man die Einwanderung fremder Juden untersagte und die Zahl der Judenfamilien in den Orten nicht vermehrt werden durfte. | (5) Dirk Rosenstock (Bearb.), Die unterfränkischen Judenmatrikeln von 1817. Eine namenkundliche und sozialgeschichtliche Quelle, in: Veröffentlichungen des Stadtarchivs Würzburg, Band 13, Würzburg 2008. S. 185.